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COVERSTORY
er/sie sein kann“, erklärt Kehr. Böhm fasst
die (Un-)Gerechtigkeit im Gesundheitsaspekt in drei Säulen zusammen: Erstens
haben wir alle unterschiedliche Dispositionen: Körperlich, genetisch, sozial, durch
unser Umfeld – all das bestimmt, ob jemand
überhaupt krank wird. Zweitens gibt es eine
Verteilungsungerechtigkeit bei der Behandlung von Krankheit und die dritte Komponente ist die Tatsache, dass Gesundheit eine
kollektive Herausforderung darstellt. „Das
ist eine grundsätzliche Frage der Gerechtigkeit und Fairness, ob wir dazu beitragen, uns
den gesamtgesellschaftlichen gesundheitlichen Herausforderungen zu stellen. In der
Covid-Pandemie haben wir gemerkt, dass
zur Gesundheit von allen auch alle beitragen
müssen“, ergänzt er.
Individuell oder gleich?
Dazu kommt, dass Gerechtigkeitsempfinden etwas sehr Subjektives ist. „Ungleich
und ungerecht ist nicht dasselbe“, betont
Kehr. Während die einen der Meinung sind,
es wäre unfair, dass finanziell Privilegierte
einfach zum Wahlarzt gehen können, sehen
andere – zum Beispiel in einem hochprivatisierten und individualisierten System wie in
den USA – das als gerecht an. Sie hätten diesen Status ja verdient. Das österreichische
Gesundheitssystem beruht auf Gleichheit,
was nachvollziehbar ist. Niemand sollte
aufgrund von Hautfarbe, Herkunft, Aussehen oder sozialem Status benachteiligt oder
auch bevorzugt werden. Was aber, wenn es
um Verhalten geht, das wir selbst steuern
können? „Inwiefern sollte Gesundheitsversorgung oder auch der Zugang zu Therapieangeboten abhängig sein vom eigenen Verhalten?“, wirft Böhm eine heikle Frage auf.
Nikotin- oder Alkoholsucht, aber auch Übergewicht sind hohe Gesundheitsrisiken, die
Menschen im weitesten Sinne in der Hand
haben. In einem System, das von allen getragen wird, könnte man gesundheitsschädigendes Verhalten als unfair kategorisieren.
Der Psychologe wünscht sich eine positive-
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re Ausrichtung dieser Debatte: Der genau
gleiche Zugang für alle ist nicht immer der
richtige Ansatz. Menschen, die benachteiligt aufgewachsen sind, sollten sogar mehr
Zugang zu gesundheitsfördernden Maßnahmen bekommen. Denn „fair“ oder „gerecht“ bedeutet nicht immer auch „gleich“.
Freilich ist diese Debatte rein theoretisch,
denn faktisch werden Menschen nicht
gleichbehandelt, wie Janina Kehr zu bedenken gibt. „Ein fairer Zugang zum Gesundheitssystem ist notwendig, führt aber
zu der Frage: Wer wird hier fair oder unfair
behandelt? Was ist mit Diskriminierung
von Menschen, die nicht so gut Deutsch
sprechen, die aus anderen Ländern kommen, was ist mit Gender? Es wird wenig explizit zu Gender in der Medizin geforscht.
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