Magazin KINDgerecht Ausgabe 2-2023, November: Wie bildet man eine Demokratie? Mitwirkung von Kita-Kindern als Zukunftsaufgabe - Flipbook - Seite 35
Mit 29 war er der jüngste Philosophieprofessor
Deutschlands, bekannt ist er heute auch für seine
provokanten Thesen. Trotz Semesterferien ist
Markus Gabriel an der Universität Bonn anzutreffen.
Das Gespräch 昀椀ndet um sieben Uhr morgens im
Bibliothekszimmer statt. „Ich bin eh ein early bird“,
sagt er. Wie so oft trägt der 43-jährige Anzug und
Krawatte und macht es sich sofort in einem der
Biedermeier-Sessel bequem.
Ein Interviewauszug aus der Süddeutschen Zeitung vom 23.09.2023 von Carolin Fries.
Sie plädieren in Ihrem neuen Buch
für ein Kinderwahlrecht. Wie könnte
das aussehen?
Ich glaube, man sollte die Sache als
Gedankenexperiment so radikal wie
möglich ansetzen, ich würde sagen
ab Geburt. Vermutlich sogar vorgeburtlich, aber sagen wir mal ab null.
Ein Neugeborenes kann natürlich kein
Kreuzchen setzen, also müssten wir
das Wahlrecht bis zu einem bestimmten Alter an die Erziehungsberechtigten delegieren, und zwar mit einem
lebenslangen Rechtfertigungsrecht.
Und das, sagen wir mal, bis zum Alter
von vier Jahren. Ich glaube spätestens dann – da wird man aber noch
mal Spezialisten fragen müssen –
kann man Kindern in einem eigenen
Kinder-Wahlprogramm erläutern, was
auf dem Spiel steht. In vielen Kitas
üben Kinder das ja schon, etwa ob
Radieschen oder Kartoffeln angep昀氀anzt werden.
Eine Wahl ist erheblich komplexer als
die Zusammensetzung eines
Gemüsebeets. Kann ein fünf oder
sechs Jahre altes Kind das über
haupt überreißen?
Ich würde sagen, es ist für niemanden zu überreißen. Unsere vermeintlich politisch informierten Vollpro昀椀s
sind schließlich auch nur Personen,
die irgendwann 18 geworden sind.
Wer überreißt denn da irgendetwas?
Wir haben alle auch nur grobe
Vorstellungen davon, was passiert.
Zukunft ist immer etwas, was wir auch
setzen, und nichts, was von selbst
kommt. Teilweise sind da Kinder
besser aufgestellt, weil sie radikal
anders leben wollen als wir, offener
sind für Zukunft.
Markus Söder ankreuzt ...
Genauso groß oder klein wie bei den
Erwachsenen.
Wirklich? Kinder sind doch viel
leichter „käu昀氀ich“ als Erwachsene,
weil sie nicht um den Wert ihrer
Stimme wissen.
Ich würde mal sagen, ein durchdachtes Kinderwahlrecht, das in demokratischen Händen ist, ist weniger
manipulativ als das Zulassen von
Twitter, Facebook oder Telegram als
Medien der Meinungsbildung. Von
denen wissen wir sogar, dass sie
demokratiegefährdend sind.
Erinnern Sie sich an Ihre erste Wahl?
Sehr genau sogar. Es macht einen
Warum machen Sie sich für die
Unterschied, ob man von der SeitenliKinder stark? Gab es einen Auslöser?
nie kommentiert, was die Demokratie
Meine damals fünf Jahre alte Tochter
braucht, oder ob man im Zentrum
sah hier bei einer Kommunalwahl in
des Geschehens etwas tun darf. Ich
Bonn Plakate und fragte mich, wer
wollte so schnell wie möglich meine
die Leute sind und was die vorhaben.
Kreuzchen machen und habe mich
Ich habe ihr das dann erläutert. Sie
auch mit der Frage beschäftigt, was
fand das interessant und hat mir nach
es für die
zwei, drei Wochen
„Ein durchdachtes Kinderwahl
Demokratie
mitgeteilt, wen sie
recht, das in demokratischen
bedeutet, dass
wählen wird. Ich
Händen ist, ist weniger manipulativ viele Menschen
sagte ihr, dass sie
nach Gesicht
nicht wählen dürfte, als das Zulassen von Twitter,
wählen. Das
worauf sie verwunFacebook oder Telegram als
fand ich eine
dert fragte, warum.
Medien der Meinungsbildung.
merkwürdige
Auf meine ErläutePraxis. Ich habe also versucht, mich
rung hin ist sie in Tränen ausgebroso gut wie möglich zu informieren.
chen und sagte, das sei unfair: Wieso
bestimmen die Erwachsenen darüber,
Eine Ihrer Thesen, mit denen Sie für
worüber ich bestimmen darf? Als ich
ein Wahlrecht der Kinder argumen
ihr dann sagte, dass sie mit 18 Jahren
tieren, ist der herrschende Adultis
wählen dürfte, konnte sie das nicht
mus, das Ausgrenzen der Kinder.
verstehen. Und ich konnte ihr keine
Haben Sie sich als Kind ausgegrenzt
überzeugenden Gründe nennen.
gefühlt?
Ja, ohne zu verstehen, warum! Und
Hätten Sie ihr das denn zugetraut zu
umgekehrt habe ich den Druck der
wählen?
Normativität der Erwachsenen
Auf jeden Fall. Unsere lokale politische
gespürt. Meine Wahrnehmung war,
Debatte drehte sich etwa um die
da kommt etwas, in das man langFrage, ob es eine Seilbahn geben soll
sam hineinsozialisiert wird. Und es sieht
vom Bonner Venusberg, wo wir
nicht gut aus, was da kommt. Ich
wohnen, runter ins Tal. Für mich gab
empfand die Gesellschaft der
es elementar ökologische und den
Erwachsenen als beengend für
Verkehr entlastende Gründe dafür,
meinen Geist.
und meine Tochter stand auf meiner
Seite, aber teilweise aus anderen
Sie schreiben, dass jede Gesellschaft
Gründen. Sie wollte zum Beispiel
ihre Kinder auf irgendeine Art und
schneller zu einem ihrer LieblingsresWeise unterschätzt. Warum?
taurants kommen. Warum sollte das
Moderne, sozial komplexe Gesellnicht auch ein Grund sein?
schaften betrachten die Kinder als
Mängelwesen. Die wissen etwas
Wie groß ist die Gefahr, dass die
Wichtiges noch nicht, und deswegen
Kinder manipuliert werden? Du
muss man sie initiieren in die Welt der
bekommst ein großes Eis, wenn du
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