Magazin KINDgerecht Ausgabe 2-2023, November: Wie bildet man eine Demokratie? Mitwirkung von Kita-Kindern als Zukunftsaufgabe - Flipbook - Seite 17
Demokratiebildung ist mehr als die
Vermittlung von Wissen. Kitas haben die
Chance, Kinder schon früh an demokratische Werte, Normen und Verhaltensweisen heranzuführen. Wie kann frühe
Demokratiebildung erfolgreich sein und
Exploration, Lernen und Partizipation ermöglichen (Grossmann/Grossmann 2017). Mit Gleichaltrigen können Kinder
sich im sozialen Miteinander erproben, Sozialkompetenzen
und Ambiguitätstoleranz ausbilden. Dabei entwickeln sie ein
Bild von sich selbst als Teil des sozialen Gefüges (Ittel/Raufelder/Scheithauer 2014). Gerade darin liegt eine große Chance: Als erste „wertebildende pädagogische Instanz“ (Schubarth/Tegeler 2016: S. 266) bieten Kitas für die Entwicklung von
demokratisch ausgerichteten Normen und Werten von Kindern ein großes Potential.
welche Rolle spielen SelbstwirksamkeitsDoch was heißt das nun mit Blick auf die Praxis der Demokratiebildung in Kitas? Dieser Frage ist das Forschungsprojekt „Bildung
und Demokratie mit den Jüngsten“1 am Deutschen Jugendinsbeschäftigte sich ein Forschungsprojekt
titut nachgegangen. Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder die für
des Deutschen Jugendinstituts.
den Demokratiebildungsprozess zentralen Selbstwirksamkeitserfahrungen insbesondere über Möglichkeiten der Beteiligung
machen können. Diese wird in der Praxis gleichermaßen über
Demokratie kann in der Kita nicht gelehrt werden, sondern
strukturierte Formate, wie zum Beispiel über einen Kita-Rat,
wird primär über Erfahrungen weitergegeben (Richter et al.
Kinderkonferenzen, Beschwerdeverfahren wie auch über all2017). Damit steht nicht die Vermittlung von Wissen über das
tagsorientierte Formate praktiziert. Letztere verwirklichen sich
Wesen der Demokratie, über ihre Institutionen und ihre Funktiüber die Interaktionen zwischen Fachkräften und Kindern im
onsweise im Zentrum, sondern die Möglichkeit, zentrale deAlltagsgeschehen und zielen auf Wahrnehmung und Berückmokratische Werte, Haltungen und Prinzipien wie zum Beispiel
sichtigung von kindlichen Bedürfnissen ab, wie zum Beispiel
Kompromissbereitschaft, Kon昀氀iktfähigkeit oder auch Partizipabeim Essen, Schlafen, der Auswahl von Spielorten oder Biltion zu erproben. Frühkindliche Demokratiebildung ist ein Produngsthemen. Über beide Formate können Kinder Strukturen
zess, bei dem sich die Jüngsten mit einer
und Abläufe von demokratischen Partizivon demokratischen Werten geprägten „Demokratiebildung ist kein Luxus, pationsprozessen erfahren und das ArtikuKultur vertraut machen und durch Erfah- den wir uns leisten können oder
lieren von eigenen Sichtweisen sowie den
rungen soziale und kulturelle Muster verinUmgang mit unterschiedlichen Perspektinicht, sondern die Basis für ein
nerlichen (Eberlein/Durand/Birnbacher
ven und Kon昀氀ikten in der Gemeinschaft
demokratisches und friedliches
2021). Kinder können dabei Selbstwirksamüben.
keit erfahren und Kompetenzen für das Le- Zusammenleben in unserer Gesell
ben in einer demokratisch verfassten Ge- schaft. Kitas haben hier ein großes Die Analysen der Forschungsdaten zeigen
sellschaft entwickeln.
allerdings, dass formalisierte Verfahren und
Potential.“
Alltagspartizipation nicht getrennt voneinFluchtpunkt für diese Annäherung an Demokratiebildung ist
ander betrachtet werden können. So hängt die Qualität forein Demokratieverständnis, das diese an den Alltag der Menmalisierter Verfahren wie Kinderkonferenzen davon ab, ob
schen bindet und in ihr gleichermaßen eine Lebensform sieht.
Fachkräfte diese in der Interaktion sensitiv-responsiv gestalten
„Die Demokratie“, so der Pädagoge und Demokratietheoreund Kinder Beteiligung erfahren, die Konsequenzen hat. Dass
tiker John Dewey, „ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in
Demokratiebildung in der Praxis authentisch und folgenreich
erster Linie eine Form des Zusammenlebens,
sein muss, wird auch aus der Analyse der
der gemeinsamen und miteinander geteil- „Die Erfahrung von Selbstwirk
Kinderinterviews in der Studie sichtbar. Die
ten Erfahrung“ (1993, S. 121). Demnach kann samkeit ist gerade in der frühen befragten Kinder kennen genau die jeweils
auch Demokratiebildung nicht als Zusatzan- Demokratiebildung essentiell.
geltenden Regeln und wissen, ob sie Möggebot oder Krisenbewältigungsmechanislichkeiten haben, diese zu beein昀氀ussen. ZuKinder merken an der Wirkung
mus verstanden werden, sondern ist für die
dem erkennen und benennen sie deutlich
ihrer Entscheidungen und
demokratisch verfasste Gesellschaft von
„leere“ Beschlüsse und Ankündigungen
Handlungen sehr genau, ob
und äußern Enttäuschung darüber, wenn
grundlegender Bedeutung (Olk/Roth 2010).
Partizipation in ihrer Kita wirklich Engagement und Verantwortungsübernahme keine konkreten Folgen zeigen. Es
Die Relevanz frühkindlicher Demokratiebil- ernst gemeint ist.“
ist bedeutsam für Kinder, dass sich ihr Handung lässt sich aber auch aus der Kindheitsdeln
als
wirksam
zeigt
und sie keine Erfahrungen der Scheinparund Bildungsforschung begründen, die zeigt, dass die ersten
tizipation
machen.
Jahre in der Entwicklung von Kindern prägend sind. Hier wer-
erfahrungen dabei? Mit dieser Frage
den wesentliche Grundlagen der Identität und Persönlichkeit
gelegt und auch die Entwicklung eines Werte- und Normensystems beginnt bereits mit der Geburt (Keller 2007). Maßgeblich sind die Erfahrungen, die junge Kinder in ihrer familiären
und außerfamiliären Lebenswelt machen. In der Interaktion
mit erwachsenen Bindungspersonen entwickeln sie Emotionsund Stressregulationskompetenzen, die Sicherheit bieten und
1 Das Projekt „Bildung und Demokratie mit den Jüngsten“ wurde im Zeitraum von September 2019 bis Februar 2023 durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 昀椀nanziert. An der qualitativen
Studie haben zwölf Kitas aus sechs Bundesländern teilgenommen. Durchgeführt wurden Gruppendiskussionen mit Leitungskräften, Fachkräften und
Kindern sowie videogestützte Beobachtungen.
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