240529 KINDgerecht 210x285 Inhalt Einzelseiten hochaufgeloest WEB 01 - Flipbook - Seite 23
Das Bild des Flickenteppichs wird häufig herangezogen, um über die frühkindliche
Bildung und Betreuung in Deutschland nachzudenken. Große Flicken tun sich auch
auf, wenn es um den Kita-Platz selbst geht. Denn auch nach bald fast 20 Jahren
Rechtsanspruch in Deutschland auf einen Betreuungsplatz ab drei Jahren und gut
zehn Jahren Anspruch auf einen Platz ab einem Jahr macht es immer noch einen
gewaltigen Unterschied, ob Eltern in Berlin oder in einer südhessischen Kleinstadt
von diesem Recht Gebrauch machen wollen. Ich spreche aus eigener Erfahrung.
Von Dr. Josefine Koebe
Noch unüberwindbarer erscheint der Flickenteppich, wenn wir
Die Einführung bundesweiter Qualitätsstandards würde den Fli-
uns neben der Quantität der zur Verfügung stehenden Plätze
ckenteppich mit entsprechender Kraftanstrengung einer star-
auch über die Qualität der frühkindlichen Bildung und Betreu-
ken Bildungspartnerschaft zwischen Bund, Ländern und Kom-
ung unterhalten. Dabei zeigen uns Studien wie PISA oder auch
munen neu knüpfen. Ich stelle mir einen großen Webrahmen vor,
die „Starting Strong“-Studie der OECD regelmäßig, dass die
der Qualität und einheitliche Ziele definiert und diese systema-
Qualität der frühkindlichen Bildung ein entscheidender Garant
tisch beobachtet, evaluiert und weiterentwickelt. Dazu braucht
für den Erfolg des gesamten Bildungssystems ist. Zoomen wir
es vor allem Mut zu mehr zentraler Steuerung und Finanzierung
in die durchschnittliche Fachkraft-Kind-Relation hinein, die mit
durch den Bund.
neun zu betreuenden Kindern über drei Jahren pro Fachkraft1 im
OECD-Vergleich zwar einen relativ niedrigen Wert darstellt, so
Das „Gute-Kita-Gesetz 1.0“ hat einen ersten vorsichtigen
kommt die enorme Spannbreite einer heterogenen Qualitäts-
Schritt in diese Richtung gewagt, aber die Länderunterschiede
landschaft schnell zum Vorschein: Gehört mein jüngster Sohn
und erneut wieder der Flickenteppich wurden immer wieder als
im Landkreis Bergstraße zu den unter Dreijährigen, die auf
Argument benutzt, dass man für den großen Rahmen noch Kräf-
einen durchschnittlichen Personalschlüssel von 3,7 Kindern pro
te spart und lieber auf einzelne Länderverträge setzt. Wenn wir
Fachkraft treffen, so erlebt das Kind meiner Freundin nur zwei
das einzelne Kind und seine Bildungschancen in den Fokus der
Nachbarkreise weiter im rheinland-pfälzischen Landkreis Bad
Debatte rücken würden, bin ich mir sicher, kämen wir mit dem
Dürkheim einen Personalschlüssel von 4,5 Kindern. Wären wir in
„Gute-Kita-Gesetz 2.0“ endlich vom Stopfen zum Weben.
Berlin wohnen geblieben, wären es schon 5,2 Kinder unter drei
Jahren auf eine Fachkraft.2
Die Ungerechtigkeit, die sich hinter diesen Zahlen verbirgt, hat
mich persönlich vor rund zehn Jahren dazu bewogen, politisch
für mehr Chancengleichheit zu kämpfen: Der Wohnort sollte
Literatur
OECD (2022): Education at a Glance 2022: OECD Indicators. Paris
nicht länger über die Bildungschancen unserer Kinder entscheiden.
Damals wie heute konnte ich es nicht fassen, dass die empirischen Befunde so klar auf der Hand liegen, die Politik sich aber
lediglich mit heißen Nadeln von Flicken zu Flicken hangelt und
eine immer noch viel zu leise Lobby aus Kindern, Eltern, Fachkräften und Trägern geduldig die ungerechten Folgen eines ausgefransten Teppichs schultert.
1 Im OECD-Durchschnitt kommen auf eine Fachkraft 13 Kinder im Alter von
drei bis sechs Jahren. Für Kinder unter drei Jahren weist der EU-Durchschnitt
eine Fachkraft-Kind-Relation von 1:9 aus. Auch hier schneidet Deutschland
mit fünf Kindern pro Fachkraft ebenfalls vergleichsweise gut ab (OECD
2022).
2 Alle Daten entstammen dem Bertelsmann Ländermonitor (Personalschlüssel (ohne Leitungsstunden) in den Kreisen bzw. kreisfreien Städten am
01.03.2022). Zu beachten ist, dass im Alltag auftretende Krankheitsfälle
sowie Fort- und Weiterbildungen in diese Statistik nicht miteinfließen, dass
pädagogische Fachkräfte im Alltag sich zumindest zeitweilig immer wieder
um eine deutlich höhere Anzahl von Kindern kümmern müssen.
Dr. Josefine Koebe war bis
März 2024 im Stabsbereich
Wissenschaftskooperationen
– Internationales bei Fröbel
beschäftigt. Im Oktober 2023
wurde sie in den Hessischen
Landtag gewählt. Seit 2024
ist sie Generalsekretärin
der SPD in Hessen.
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