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Erstmalig konnte mit dem Schwerpunktkapitel „Bildung und Migration“ für den Deutschen Bildungsbericht 2016 ein präziserer
Indikator für die regionale Verteilung der zu Hause gesprochenen Familiensprachen der bildungspolitisch relevanten Altersgruppe der Vorschulkinder veröffentlicht werden.7 (Abbildung 3)
Eine Zunahme von Mehrsprachigkeit bedeutet in erster Linie Chancen – sowohl für das einzelne Kind als auch für die Gesellschaft. Namhafte Bildungswissenschaftler und Neurobiologinnen konstatieren allerdings, dass in Deutschland die Chance,
Kinder über frühe bilinguale Erziehung fit für den internationalen
Bildungswettbewerb zu machen leichtsinnig verspielt würde.
Prof. Andreas Schleicher, Koordinator der Pisa-Studien, bezifferte das daraus resultierende ungenutzte Bildungspotenzial mit einem wirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhe.12
Waren es 2015 noch 18,2 Prozent der 3- bis unter 6-jährigen
Erstmalig konnte mit dem Schwerpunktkapitel „Bildung und Migration“ für den Deutschen Bildungsbericht 2016 ein präziserer
Indikator für die regionale Verteilung der zu Hause gesprochenen Familiensprachen der bildungspolitisch relevanten AltersIm Widerspruch
gruppe der Vorschulkinder veröffentlicht
werden.7 Waren es 2015 noch 18,2 % der 3- Ich sehe es als eine gesamt
bis unter 6-jährigen Kita-Kinder, die einen
gesellschaftliche Aufgabe,
Migrationshintergrund haben und zu Hause überwiegend eine andere Sprache als den Diskurs der Mehrsprachig
Deutsch sprechen, stieg die Quote 2018 keit in unserem Land vor
schon auf 20,5 Prozent, mit großen regio- allem über Stärken statt über
nalen Unterschieden (siehe Abbildung 3).
zu den zahlreichen Vorurteilen, die mit Zuwanderungssprachen assoziiert werden,
verweist die Zusammenstellung von Studien zur Mehrsprachigkeit der Dortmunder
Arbeitsgruppe rund um Ute Ritterfeld auf
die mittlerweile unstrittige Ausgangsposition, „dass eine mehrsprachige Sozialisation
zunächst kein Hindernis für eine gelungene
Sprach- und Kommunikationsfähigkeit, für
Defizite zu definieren.
Bildung und soziale Integration darstellt“.13
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Kita-Kinder , die einen MigrationshinNachteilige Rahmenbedingungen, die
tergrund9 haben und zu Hause überwiegend eine andere Spra- bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern auffallen, ergeben
che als Deutsch sprechen10, stieg die Quote 2018 schon auf 20,5 sich allerdings, wenn eine zusätzliche Sprache nicht gleich von
Prozent, mit großen regionalen Unterschieden (siehe Abbildung klein auf erworben wird oder wenn die Zielsprache dem Kind nur
3). Für 2019 nennt das Bundesfamilienministerium auf eine Kleine auf geringem Niveau vermittelt wird.
Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion unter Bezugnahme derselben Quellen11 eine Quote von 21,4 Prozent aus. Das heißt, für
Politisches Handeln ist also gefragt: Mit steigender Anzahl
mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland (rund 675.000 Kinder) an Kindern, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, müssen deutlich
ist es vor allem das Umfeld der Kita, das den Erstkontakt mit der mehr Ressourcen in Sprachförderung – insbesondere in die Ausdeutschen Sprache herstellt sowie die wesentliche Grundlage bildung des Personals – investiert werden, um gesellschaftliche
für den späteren Bildungserfolg schafft. In einigen Ländern (Hes- Teilhabe für alle Kinder von klein auf zu ermöglichen. Die aktuell
sen, Berlin, Bremen) trifft das sogar auf rund jedes dritte Kind zu.
zur Verfügung gestellten Mittel zur Sprachförderung erweisen
sich angesichts des jährlich steigenden Anteils an Familien, in deMehrsprachigkeit: Stärken statt Defizite
nen vorrangig nicht deutsch gesprochen wird, als unzureichend.
Darüber hinaus zeigen einschlägige Studien14, dass gerade FaWas schließen wir nun daraus, dass unsere Kinder in eine zuneh- milien, die besonders von gezielter Sprachförderung profitieren
mend multikulturelle und damit auch multilinguale Gesellschaft würden15, immer noch nicht früh genug in den Kitas ankomhineinwachsen?
men16. Es gilt also weiterhin mit Nachdruck den Ausbau von Kita-Plätzen voranzutreiben, um Betreuungswünsche insbesondeDeutschland
Deutschland
re von Familien mit Migrationshintergrund zu erfüllen. Aber auch
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zielgerichtete Maßnahmen, wie die Erleichterung der Anmelde3
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modalitäten, könnten helfen, um den vielerorts sehr steinigen
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Weg für mehrsprachige Familien zu einem Kita-Platz zu ebnen.
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Anteil der 3- bis unter 6-Jährigen
mit nicht deutscher Familien
sprache an allen Kindern in
Tageseinrichtungen in Prozent:
0 bis unter 10
10 bis unter 15
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Jugendamtsbezirke
mit den höchsten Anteilen (2018)
Offenbach am Main
Rüsselsheim
Frankfurt am Main
Pforzheim
Ludwigshafen am Rhein
Hanau
Heilbronn
Schweinfurt
Fulda
Wiesbaden
62,4
57,9
54,4
49,8
49,3
49,2
48,8
45,1
44,2
43,8
Abbildung 3: 3- bis unter 6-Jährige mit Migrationshintergrund und
nichtdeutscher Familiensprache 2015 und 2018 nach Ländern (in Prozent
an allen Kindern in Tageseinrichtungen), Quelle: Autorengruppe
Bildungsberichterstattung (2020, S. 98), Abb. C5-1, Tab. C5-2 web.
(eigene Darstellung)
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Ich sehe es als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den
Diskurs der Mehrsprachigkeit in unserem Land vor allem über
Stärken statt über Defizite zu definieren. Für unsere Bildungsinstitutionen zieht das den Auftrag mit sich, praktizierten Familiensprachen mehr Wertschätzung entgegenzubringen. Das fängt
in der Kita damit an, den eigenen Namen auf Arabisch schreiben zu lernen, geht über die Bereitstellung mehrsprachiger Bilder- und Kinderbücher und dem gemeinsamen Feiern interkultureller Feste und führt im besten Fall zu einem breiten Spektrum
an notentechnisch anrechenbarem Unterricht von Zuwanderungssprachen durch qualifiziertes und entsprechend geschultes Fachpersonal in Grund- und weiterführenden Schulen.
Worauf warten wir noch? An unseren Kindern scheitert die
Mission sicher nicht. Die Faszination für Mehrsprachigkeit ist ihnen
von klein auf in die Wiege gelegt und damit halten wir alle dieses bedeutende Potenzial für unsere Gesellschaft als kostbare
Ressource in unseren Händen. Lasst es uns nutzen.