EXAMPLE PAGE - MAGAZINE - KIND - Magazin - Seite 5
Deutschland hat eine lange Geschichte als Einwanderungsland zu verzeichnen. In den Migrationsbewegungen
spiegeln sich prägende wirtschaftliche und politische EreignisDie Faszination, die aus meinem Sohn heraussprudelt, wäh- se wider (Abbildung 1), wie zum Beispiel das am 30. Oktober
rend er stolz das in der Kita Gelernte aufs Papier bringt, ist nicht 1961 unterzeichnete Abkommen zur Anwerbung von Arbeitszu übersehen. Mein Sohn zählt nicht zu den
kräften aus der Türkei, das auf Abkomrund 20 Prozent1 der Kita-Kinder im Alter Während die gesellschaftliche
men mit Italien, Spanien sowie Grievon 3 bis unter 6 Jahren in Deutschland, die
chenland folgte und 1973 endete. Der
Anerkennung für Kinder, die
zu Hause in der Regel eine andere Sprache
daraufhin eintretende Familiennachzug
als Deutsch sprechen. Er wird also weitge- mit Englisch oder Französisch
hatte zur Folge, dass deutlich mehr Kinhend von dem institutionellen Bildungsan- aufwachsen, in Deutschland
der und Jugendliche nach Deutschland
gebot vom unserem Land abhängig sein, zunimmt, werden bei Kindern,
kamen. Auch die Auflösung der UdSSR
ob die sprachpolitischen Leitziele der Euround die Kriege im ehemaligen Jugosladie türkisch, russisch, polnisch
päischen Union2 – mindestens Grundkenntwien ab Ende der 1980er Jahre finden
nisse in drei Sprachen zu besitzen – erfolg- oder romanes zuhause
sich in Abbildung 1 als Zuwanderungs
sprechen, nach wie vor die
reich umgesetzt werden können.
zuwachs von Ausländerinnen und Ausländern5 wieder.
vermeintlichen Probleme von
Ob er allerdings auf seinen jüngst geMehrsprachigkeit thematisiert.
wonnenen arabischen Wortschatz auch
Seit der Wiedervereinigung hat sich
später als Fremdsprache in der weiterfühder Anteil der ausländischen Bevölkerung
renden Schule wird aufbauen können, wage ich zu bezweifeln. an der Gesamtbevölkerung in Deutschland ausgehend von sieWenn wir auf unsere Schullandschaft schauen, dann spielen Zu- ben Prozent im Jahr 1990 bis heute fast verdoppelt, mit stagniewanderungssprachen seit jeher marginal und höchstens als rendem Verlauf in den 1990er und 2000er Jahren und einem
„herkunftssprachlicher Unterricht“ im Rahmen von AGs am deutlichen Anstieg in den zurückliegenden zehn Jahren auf 12,7
Nachmittag eine unbenotete Rolle.3
Prozent im Jahr 2020.6 Diese Entwicklung lässt auch einen Anstieg der sprachlichen Heterogenität vermuten. Abbildung 2
Während die gesellschaftliche Anerkennung für bilinguale stellt den Anteil der ausländischen Bevölkerung nach ausgeKinder, die mit im Schulcurriculum verankerten Sprachen wie Eng- wählten Staatsangehörigkeiten im zeitlichen Verlauf dar. Hier
lisch oder Französisch aufwachsen, in Deutschland zunimmt, wer- zeigt sich, dass insbesondere durch die Zuwanderung seit 2015
den bei Kindern, die türkisch, russisch, polnisch oder romanes zu die Bedeutung der arabischen sowie osteuropäischen SpraHause am Abendbrottisch sprechen, nach wie vor eher die ver- chen weiter zugenommen hat.
meintlichen Risiken und Probleme von Mehrsprachigkeit themati2,2
siert. Dabei ist es vor allem zweiterer Sprachkanon, der aus histori2,0
Türkei
scher Perspektive eine besondere Rolle für unser Land spielt.
1,8
Anzahl in Mill.
„Schau mal, Mama, ich kann jetzt meinen Namen auf Arabisch
schreiben.“
Deutschland als Einwanderungsland
Um eine längerfristige Entwicklung der Mehrsprachigkeit in
Deutschland betrachten zu können, kommen wir nicht umhin,
Migrationsbewegungen mit Mehrsprachigkeit in Verbindung zu
bringen, da die direkte Erfassung der Sprachlichkeit erst seit
Kurzem in offiziellen Statistiken erfolgt..4
Anzahl
1,6
1,4
1,2
1,0
0,8
0,6
0,4
0,2
0
ehem.
Jugoslawien
Syrien
Italien
Polen
Griechenland
Afghanistan
1985
1990
1995
Rumänien
2000
2005
2010
Eritrea
2020
Abbildung 2: Ausländische Bevölkerung nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten, Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), (2021, S. 13), Schaubild 2
(eigene Darstellung)
1.400.00
1
2
3
4
1.600.00
1.200.00
800.000
400.000
596.392
541.580
600.000
303.543
576.942
245.591
200.000
0
-33.455
-200.000
-197.569
-234.010
-213.928
1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010
Zuwanderung
Abwanderung
Saldo
Abbildung 1: Zu- und Abwanderung von Ausländerinnen und Ausländern
nach bzw. aus Deutschland sowie Saldo der Zu- und Abwanderung 1954
bis 2014, Quelle: Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016), Kapitel
H1, S. 164, Abb. H1-1, Tab. H1-7 web (eigene Darstellung)
Siehe Abbildung 3 für Quellenhinweis.
Vgl. Europäischer Rat (2002).
Siehe Berlin-Brandenburger Positionspapier (2016).
A
uch wenn der Zusammenhang plausibel erscheint, muss ein Migrationshintergrund nicht für alle Familien bedeuten, dass die Kinder mehrsprachig
aufwachsen. Umgekehrt haben nicht alle Familien mehrsprachig aufwachsender Kinder einen Migrationshintergrund. Siehe Ritterfeldt et al. (2013).
5 Wird ein breiteres Migrationskonzept zugrunde gelegt, so ergibt sich ein mehr
als doppelt so großer Anteil an in Deutschland lebenden Menschen mit
Migrationshintergrund im Vergleich zu Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Siehe Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016, S. 165).
6 H
ier handelt es sich um Daten der Bevölkerungsfortschreibung auf Basis des
Zensus 2011. Daten sind vergleichbar, wenn das Ausländerzentralregister als
Quelle herangezogen wird. Zur ausländischen Bevölkerung zählen alle
Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 Grundgesetz sind,
d. h. die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Dazu zählen auch
Staatenlose und Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. Deutsche,
die zugleich eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen („Doppelstaatler“), zählen nicht zur ausländischen Bevölkerung. Quelle: Statistisches
Bundesamt (Destatis)(2016), Tabelle 1, Tabelle 1, Bevölkerung insgesamt und
ausländische Bevölkerung 1871 bis 2020.
5